Ein Dialog unter Beraterkollegen.
Wie fit ist der Mittelstand für den Change?
Wird 2015 ein „Change-Jahr“ für den Mittelstand? Und wie wird sich der Mittelstand schlagen?
processline-Geschäftsführerin Jennifer Reckow hat mit erfahrenen Kollegen – unter anderem aus dem Vorstand des Fachverbands Change Management im BDU (Bundesverband Deutscher Unternehmensberater) – das erste Quartal 2015 Revue passieren lassen und gleichzeitig den Blick in die Glaskugel gewagt. Herausgekommen ist: Die Ampel steht für den Mittelstand auf Gelb!
Im Gespräch:
- Hans-Werner Bormann, WSFB-Beratergruppe Wiesbaden
- Sven Bemmé, sbc consulting, Hamburg
- Rainer Bopp, Unternehmensregisseur, Pöcking
- Jennifer Reckow, processline, Speyer
Bereit für den Change? Wie analysieren und bewerten Berater eigentlich die
Veränderungsfähigkeit eines Unternehmens?
Bormann: Die Veränderungsfähigkeit eines Unternehmens fängt mit dem Erkennen und Verstehen von Veränderungsimpulsen an: „Aha, der Markt bewegt sich!“ Jetzt gilt es zu klären: Fallen diese aktuell wahrgenommenen Veränderungen in die Kategorie „weiter beobachten“? Oder beginnt man damit, in der Organisation Akzeptanz für Veränderungsnotwendigkeiten zu schaffen? Ist bereits eine Veränderungsarchitektur zur Maßnahmenumsetzung in Arbeit? Und dann schaut man sich natürlich auch die klassischen Faktoren an, die die Resilienz – sprich: Robustheit – der Organisation in Veränderungsprozessen prägen. Wie zum Beispiel die Erfahrung der Führungsmannschaft im Organisieren von grundlegenden Veränderungen.
Reckow: „Führungsmannschaft“ ist genau das richtige Stichwort. Zwar hängt die Veränderungsfähigkeit einer Organisation in der Tat von verschiedenen Kriterien ab, aber aus meiner Sicht in erster Linie von der Veränderungsfähigkeit der obersten Führungsebene. Zweifellos: Es sind auch Veränderungen innerhalb einer Organisation möglich, die das Top-Management aussparen. Jedoch muss man hier die Frage nach Wirkungsgrad und Aufwand stellen. Eine gute Analysemethode ist sicher unsere „Change-Reifegrad Matrix“, die wir im BDU-Fachverband Change Management gemeinsam entwickelt haben. Aber: Bevor diese zum Einsatz kommt, sind intensive Gespräche mit der Unternehmensleitung notwendig, um deren Veränderungsbereitschaft festzustellen – oder sie zu wecken.
Bemmé: Wichtig ist dabei auch, das Unternehmen in seiner Gesamtheit zu betrachten, das heißt, den Blick gleichzeitig auf die Aufbauorganisation, auf die Managementsysteme und Prozesse sowie auf die in ihnen tätigen Menschen, also auf die Qualität der täglichen Zusammenarbeit, zu richten. Wir Berater müssen die „offizielle Wirklichkeit“ eines Unternehmens und die „wirkliche Wirklichkeit“ übereinanderlegen – und schließlich auch das Gesamtsystem in seinen unternehmerischen Außenbeziehungen betrachten, etwa zu Kunden, Lieferanten, Partnern, Wettbewerbern etc. Am Ende tritt bekanntermaßen nur nach außen, was innen drin auch vorhanden ist.
Bopp: Veränderung… Wie groß ist die Bereitschaft denn wirklich? Entwicklungsgeschichtlich ist im Menschen ein Widerstand gegen Änderung angelegt. Doch warum diese Beharrungskonstante? Bis vor 10.000 Jahren lebten wir nun mal in einer bedrohlichen Welt. Alles, was wir nicht kannten, behandelten wir bis zum Beweis des Gegenteils als gefährlich. Wenn wir die biologischen Gründe beiseitelassen: Zu betrachten ist natürlich die Summe aller Faktoren, die den Change ermöglichen. Und da bin ich in meiner Einschätzung bei den Kollegen: Das Geschick der Unternehmensführung spielt hier eine maßgebliche Rolle.
Wie ist es denn nun um den aktuellen „Zustand“ des Mittelstands bestellt?
Bemmé: Dem Mittelstand geht es derzeit gut – und weniger gut zugleich. In den Nachwehen der Weltwirtschaftskrise wähnen sich viele Unternehmen wieder auf dem Weg zurück in stabile Organisations- und Verdienstverhältnisse. Zugleich pokern einige Betriebe schon wieder mit hohem Einsatz, indem sie zunehmende Nachfrage- und Produktionszahlen weiter auf Basis einer reduzierten Personaldecke bedienen. Dies macht sich kurzfristig gut in der Kosten- und Leistungsrechnung, bleibt jedoch auf längere Sicht nicht ohne das Risiko, als Organisation auszubrennen.
Reckow: Der deutsche Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – nicht ohne Grund. Der Mittelstand war schon seit jeher in der Lage, sich aktuellen Situationen anzupassen und angemessen zu reagieren. Somit hat der Mittelstand eine Veränderungsfähigkeit, die er oft selbst unterschätzt. Jedoch sind die Rahmenbedingungen um ein vielfaches komplexer geworden und die „hemdsärmelige“ Vorgehensweise, die meist die Stärke des Mittelstandes ist, kann ihm hierbei im Wege stehen. Nehmen wir das verarbeitende Gewerbe – für „Industrie 4.0“ sind bereinigte Stammdaten unumgänglich. Und dies bedeutet extrem viel „Aufräum- und Detailarbeit“. Auch werden global einheitliche Abläufe benötigt, um die Komplexität zu bewältigen. Hinzu kommt der Fachkräftemangel, der es dem Mittelstand immer schwerer macht, offene Stellen zu besetzen und Leistungen in der gewohnten Qualität zu erbringen.
Bormann: Den aktuellen Zustand der mittelständischen Unternehmen mit Blick auf Change sehe ich von zwei Polen geprägt: Einerseits sind – teilweise auch branchenspezifische – Veränderungsnotwendigkeiten bekannt und wirksame Vorgehensweisen längst entwickelt und getestet. Andererseits fällt es zurzeit noch schwer, sich auf Neues einzulassen. Zum Beispiel wird der zunehmenden Dynamik und Komplexität noch sehr oft mit einem Weltbild begegnet, das unterstellt, Komplexität könne man wie ein kompliziertes System “managen”. Oder anders gesagt: Tayloristisches Management ist bis heute das Standardmodell der Unternehmensführung – trotzdem ist es ein Modell der Vergangenheit. Die Welt hat sich bereits geändert. Hohe Komplexität in der Wertschöpfung ist inzwischen auch in den Märkten des Mittelstands zur Normalität geworden. Und dies fordert auch von den Führungskräften entsprechende Lernprozesse!
Wird 2015 ein „Change-Jahr“? Werden sich viele mittelständische Unternehmen an umfangreiche (Organisations-)Veränderungen wagen?
Bormann: Wir merken: 2015 nimmt der Veränderungsdruck weiter zu. Die Auswirkungen des demografischen Wandels, die Auswirkungen der Energiewende, neue Geschäftsmodelle durch das Internet, Schrumpfungs- statt Wachstumsprozesse werden deutlicher spürbar. Und gleichzeitig: „Eigentlich läuft es ganz gut.“ Der Konjunkturmotor brummt weiter auf hohem Niveau! „Not-wendige“ Anpassungsmaßnahmen, die ja den Preis von Produktivität, Zeit, Geld und das Wagnis der Erforschung von Neuem haben, werden deshalb eher verhalten angegangen. Ich denke: Die Ampel steht für den Mittelstand 2015 auf Gelb!
Bopp: Passieren in 2015 Veränderungen? Zwei Aspekte sind hier für mich wichtig. Nummer 1: die Sicherheit des Umfeldes. Seit einigen Jahren schon versagen mit schöner Regelmäßigkeit die einschlägigen Institute für Zukunftsprognosen. Die Zukunft? Ein Nebel. Und Nummer 2: „lebensbedrohliche“ Dringlichkeiten – Fehlanzeige! Deutschland mutet innerhalb der Eurozone trotz aller Turbulenzen wie ein Schlaraffenland an. Es scheint immer irgendwie weiter zu gehen. Also für mich: Alarmstufe „schwaches Gelb“!
Bemmé: Aus meiner Sicht stellt sich eher die Frage: Gibt es überhaupt noch „Nicht-Change-Jahre“? Am Ende wollen Unternehmen wissen: Tun wir die richtigen Dinge? Und: Tun wir die Dinge richtig? Strategische Change-Beratung unterstützt bei der Suche nach Antworten auf die erste Teilfrage, strategische Change-Prozessberatung findet Antworten auf die zweite Teilfrage. Fest steht: Aufgaben gibt es derzeit genug.
Reckow: Ich würde es so formulieren: Wer dieses Jahr nicht nutzt, gerät in die Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Die Welt dreht sich schneller und der Veränderungsdruck auf einer anderen Ebene als nur der finanzwirtschaftlichen wird erheblich höher. Somit werden wir „Change-Experten“ und „Geburtshelfer für das Neue“ in den nächsten Jahren gefragter sein denn je. Da bin ich sicher!
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